anselm gruen milad karim1Es war die bisher größte Veranstaltung in der 18jährigen Geschichte der Akademie 55plus. Die Stadtkirche war fast voll besetzt, und auch am Ende gab es noch eine lange Warteschlange, die geduldig anstand, um die zuvor erworbenen Bücher von Pater Anselm Grün und Professor Milad Karimi signieren zu lassen.

„Frieden stiften - Frieden sein“, so heißt das Buch der beiden Autoren. Der christliche Mönch Pater Anselm Grün und der Islamwissenschaftler und Philosoph Ahmed Milad Karimi diskutierten mit Moderator Dr. Christoph Merkelbach vom Sprachenzentrum der TU Darmstadt. Pfarrer Karsten Gollnow begrüßte das große Publikum, Heidrun Bleeck und Petra Neumann-Prystaj von der Aka stellten die beiden Autoren vor und Kantor Christian Roß verzauberte das Publikum am Klavier.

Die Kooperationsveranstaltung der Aka 55plus mit der Bürgerstiftung Darmstadt, der Stadtkirche und dem Sprachenzentrum der TU Darmstadt stieß auf große Zustimmung und gab viele Denkanstöße - in einer Zeit, wo, unvorstellbar für die meisten Menschen, in Europa ein Krieg tobt.

Pater Anselm war gleich nach der Veranstaltung wieder in sein Kloster gefahren, um einigermaßen ausgeschlafen an der Frühmesse teilzunehmen. Professor Karimi hatte jedoch einen spannenden Vormittag vor sich. Im Gegensatz zum eher älteren Publikum in der Stadtkirche war nun die junge Generation angesagt: geflüchtete Studierende in spe an der TU Darmstadt und Schülerinnen und Schüler in der Bertolt-Brecht-Schule. Beides waren wichtige Bildungs-Orte des Teenagers Milad Karimi auf dem anfangs sehr beschwerlichen Weg zum renommierten Wissenschaftler. Und an beiden Ort erzählte er Ausschnitte seines Lebens an ebenjenen Lernstätten.

Vom Flüchtlingskind zum Professor

Milad Karimi spricht mit jungen Geflüchteten an der TU Darmstadt

Rund ein Dutzend geflüchtete junge Frauen und Männer saßen mit ihren Lehrerinnen und Dr. Merkelbach, dem Leiter des Sprachenzentrums, erwartungsvoll in einem Hörsaal und waren neugierig auf den berühmten Gast, der ihr Schicksal teilte, aber jetzt als Professor „ganz oben“ gelandet ist. Die Nervosität war spürbar, zumal am nächsten Tag ihre alles entscheidende Prüfung anstand. Die DSH (das ist die Deutsch-Prüfung zur Erlangung der Hochschulreife) stand an und damit die Entscheidung, ob sie das Studium starten durften. Rund anderthalb Jahre Deutschunterricht an der Uni liegen hinter ihnen - nicht gerade viel für jemanden, der in Zukunft komplexe Texte in dieser Sprache lesen soll.

Der Professor aus Münster gab gleich zu Beginn Entwarnung. Sie sollten nicht zu streng mit sich sein, meinte er, bei ihm habe es auch fünf Jahre gedauert, bis er alles komplett verstanden habe. Sie sollten sich aber nicht scheuen zu reden. Reden sei das Wundermittel, man müsse sich das unbedingt trauen. Einfach alles immer wieder ausprobieren! Und viel lesen!

Um Mut zu machen, erzählte er dann seine eigene Bildungsgeschichte, vor allem den Teil, der sich hier in Darmstadt abgespielt hatte. Mit Vater, Mutter und kleiner Schwester war er 1993 nach einer langen Odyssee aus Afghanistan über Indien und Russland nach Deutschland geflohen und letztendlich im Lager am Kavalleriesand gelandet, wo es 300 Bewohner aus 20 Nationen gab. Die Familie teilte sich ein 14 qm kleines Zimmer, bekam 81 DM im Monat und Milad konnte als Spülhilfe in der Küche für 2 DM arbeiten.

Eigentlich durften die Kinder der Asylbewerber nicht zur Schule gehen, aber Vater Karimi, der ehemals Schulleiter gewesen war und Deutsch sprach, schaffte es, ihm einen Platz an der Hauptschule in der Nähe des Lagers zu verschaffen, wo er gleichzeitig Deutsch und Englisch lernen musste. Im Lager war er das einzige Kind, das zur Schule gehen durfte, was ihm einen Sonderstatus verlieh. Er machte den Hauptschulabschluss, wechselte, wie man ihm empfohlen hatte, auf eine Berufsfachschule für Elektrotechnik, wo er aber schnell merkte, dass dies eine Einbahnstraße werden würde. Um sein Abitur zu machen, brauchte er zunächst mal eine Realschule. Die fand er auch, denn ganz zu Beginn hatte er einmal einen Tag in der Thomas-Mann-Schule verbracht, den er nicht vergessen hatte. Die Klassenlehrerin, Ute Sucker, entschied kurz und ohne Rücksprache, dass er bleiben durfte. Er schaffte einen passablen Realschulabschluss und kam endlich seinem ersehnten Ziel, Philosophie zu studieren, ein Stück näher, denn er wurde auf der Bertolt-Brecht-Schule aufgenommen.

Den Geflüchteten an der TU gab er einen Rat für die anstehende Prüfung. Sie sollten mutig hineingehen und diesen Tag, den sie ihr Leben lang nicht vergessen würden, als Chance ansehen. Ich DARF morgen die Prüfung machen, sollten sie sagen, es sei eine Chance. Und selbst, wenn man einmal scheitere, dürfe man nicht aufgeben, sondern solle das als wichtige Erfahrung im Leben akzeptieren.

Heidrun Bleeck

Ich durfte nicht scheitern“

Professor Dr. Ahmad Milad Karimi zu Gast in der Bert-Brecht-Schule

anselm gruen milad karim2Für Professor Dr. Ahmad Milad Karimi (45) war es ein Wiedersehen mit der Schule, in der er 2000 Abitur gemacht hatte, für seinen ehemaligen Kunstlehrer und Schachpartner Rainer Lind (70) ein Wiedersehen mit einem seiner außergewöhnlichsten Schüler. Während des Ethik-Unterrichts verschiedener Klassen der Bert-Brecht-Schule erzählte der Gast aus Münster (Westfalen) im neuen Berufsschulzentrum Nord den aufmerksam lauschenden jungen Leuten, warum ausgerechnet diese Schule und einige Lehrer für ihn, den einstigen Flüchtlingsjungen aus Afghanistan, so wichtig gewesen waren. In der Brechtschule habe er zu sich selbst gefunden. Die Lehrerinnen und Lehrer seien Künstler und Künstlerinnen gewesen, was man ihrem Unterricht auch angemerkt habe. Ein Lehrer habe ihm sogar Bücher aus seiner Privatbibliothek mitgebracht, als er merkte, dass er sich für Philosophie interessierte. Eltern und Schüler seien zu philosophischen Gesprächen eingeladen worden – welche andere Schule mache schon so tolle Angebote?

Bei seiner Ankunft in Darmstadt konnte der dreizehnjährige Milad noch kein Deutsch, bemühte sich aber fleißig und ehrgeizig, schnell den Anschluss zu finden. Er ging auf die Haupt-, dann auf die Berufsfach- und Realschule, fühlte sich aber erst in der Brechtschule am richtigen Ort. Im Rückblick sagt er, es sei eine unglaublich mühevolle Zeit gewesen. „Jede Schulnote war entscheidend. Die Noten mussten stimmen. Ich durfte nicht scheitern.“ In gewisser Weise tue es ihm weh, den kleinen Jungen vor sich zu sehen, der er einmal war und der so hart kämpfen musste. Seinen Eltern – der Vater war vor der Flucht vor den Mudschaheddin (islamische Terroristen) geachteter Schuldirektor in Kabul, die Mutter Zahnärztin – erlebten in Deutschland einen sozialen Abstieg.

Der ehemalige Kunstlehrer Lind erinnert sich, wie er mit Schülern, darunter auch Milad, zum Zeichnen ins Landesmuseum ging, wie er ihn dort über Afghanistan ausfragte und wie er merkte, dass der Junge großes Maltalent hatte. Ein Talent, das Professor Karimi wegen seiner beruflichen Aufgaben zurzeit brach liegen lässt.

Nach dem Abitur hatte er Philosophie und Mathematik studiert – warum aber entschied er sich dann doch für Islamwissenschaften? Wegen des 11. Septembers 2001. An diesem Tag besuchte er eine Sommerakademie, bei der über die Schönheit des Koran gesprochen wurde. Nachdem islamistische Terroristen Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington verübt hatten, wurde er plötzlich nur noch als Muslim wahrgenommen. Er war entsetzt über den Anschlag und wollte wissen: Rechtfertigt der Islam Terroranschläge? Woher weiß man, dass man auf dem richtigen Weg ist? Antworten konnte er nur finden, wenn er sich tiefer und wissenschaftlich mit seiner Religion befasste

Vor den Klassen der Brechtschule räumte der Professor ein, dass es die Realität schwer mache, religiös zu sein. Den Schülern riet er, wache Menschen zu bleiben, dünnhäutig, verletzbar und mitfühlend. Gerade dann, wenn man glaube, das Richtige verstanden zu haben, müsse man es in Zweifel ziehen. Selbstkritik sei das Fundament der Religion. Die Schüler sollten sich fragen, woher Informationen kommen, bevor sie ihnen Glauben schenken. Wenn eine Antwort als absolut formuliert werde, sei die Quelle fragwürdig. Es müsse immer eine Öffnung für andere Perspektiven geben.

Wir bedanken uns  bei der Bürgerstiftung Darmstadt für die großzügige Unterstützung.

Text: Petra Neumann-Prystaj, Fotos: Gerald Block, Petra Neumann-Prystaj

 

 

Förderer  -  Datenschutz Impressum

Nach oben